AW: Annelie verabschiedet sich - 15 Jahre sind eine lange Zeit
Liebe Annelie, liebe Boardies,
Ja, jetzt ist es ausgesprochen: Annelie ist schwer krank, kann nicht mehr mitmachen wie gewohnt, es geht ihr schlecht. Es gibt keine Hoffnung, sie hat schon viele Jahre lang gekämpft, durchgehalten, das Beste aus ihrem Leben gemacht, ihm einen Sinn gegeben, hat sich eingebracht in das soziale Leben, hat eine fantastische Mission gemacht, uns gedient und Freude bereitet. Jetzt geht es nicht mehr weiter. Ich bin traurig.
So weit wir wissen, hat sie relativ wenig Schmerzen, das ist schon einmal ganz gut, der Leberkrebs verursacht aber ein schleichendes Leberversagen, sie wird von Tag zu Tag schwächer. Die Werte sind schlecht. Sie lebt nach wie vor zuhause, müht sich mit dem Tag, wird betreut von Familie, Freunden und Ärzten.
Aktuell liest sie sicher noch mit auf dem Board. Ich bin nicht sicher, ob sie noch einmal postet. Es ist in ihrem Zustand schwierig, etwas zu schreiben. Ich würde mich freuen, wenn sie sich meldet, aber falls sie das nicht tut, wisst ihr jetzt, woran das liegt.
Annelie schreibt im Internen Forum am 4.2.13, dass sie sich freut über Eure Anteilnahme und die sensiblen Worte, die ihr findet. Ich glaube, dass ihr das sehr wichtig ist, so wie wir sie kennen. Annelie spricht im öffentlichen Bereich des Boards selten über Gefühle, nimmt immer eine Meta-Position ein, offenbart sich aber im privaten Mailverkehr durchaus.
Wir vom Team wissen schon länger, dass der Tag kommt, an dem sie Abschied nehmen muss. Wir haben immer gehofft, dass dieser Tag möglichst weit unbestimmt in der Zukunft liegt, aber jetzt ist er da. Annelie hat den Abschied selbst, bis zur letzten Patrone kämpfend, herausgezögert. Das ist schmerzvoll und ungerecht. Wieder trifft es die Beste.
Was sie für unser CC-CB bedeutet, wisst ihr ja nach 15 Jahren selbst sehr gut, ich spreche mal ein wenig aus der ersten Reihe darüber, wie wir vom Team das erleben durften. Am Anfang (1997?) war nur ich da, aber wenig später (ein oder zwei Jahre später) war Annelie da. Sie hat schnell gesehen, dass das damals schon sehr lebhafte und große Board, das größte, was es damals im deutschsprachigen Raum gab, dringend gekonnter Hilfe bedurfte. Aber wie genau sollte die Hilfe aussehen?
Boardmanagement kann man nicht in der Schule lernen, kann sich das nicht aus Büchern anlesen. Es gab keinen fest gefügten Verhaltenskanon für Boardies und Boardmoderatoren. Sogar das Wort Boardie war noch nicht erfunden. Es war auch gar nicht klar, dass ein Board ein Moderatorenteam braucht. Ich hatte längere Zeit die irrwitzige Vorstellung, dass ein Board eigentlich gar keine Moderation braucht, weil die vernünftigen, aufgeräumten, technisch interessierten Besucher sowieso nur ganz sachlich und hilfsbereit unablässig wichtige Informationen austauschen. Mann, war ich doof! Die Boardbesucher waren ganz anders! Einige waren schon so, wie ich es mir vorgestellt hatte, aber die meisten leider nicht. Es gab ein sehr starkes Interesse daran, das pralle Leben mit allen Höhen und Tiefen auf das Board zu tragen, wobei auch menschliche Schwächen sehr vordringlich ausgelebt werden sollten. Bereits 3 Tage nach Freischaltung des Boardes bekam ich eMail: „Cosmo hilf, auf dem Board ist ein Silverkiller2000, der bringt da alles durcheinander, so geht das nicht weiter, unternimm’ etwas dagegen“. Ich war also ab Tag 3 für Ordnung, und qualitativ hochwertige Boardmoderation verantwortlich. Leider auf verlorenem Posten, wie sich später bitterlich schmerzvoll herausgestellt hat.
Ganz bald kam Annelie, die um Freischaltung als Boardmoderatorin bat (--> ... okay), aber auch noch nicht so richtig wusste, wie das gehen soll. Ich habe damals darauf gesetzt, den verhaltensauffälligen Boardbesuchern weltanschauliche Betrachtungen vor Augen zu führen, die sie bessern sollten, mit dem Erfolg, dass die ohnehin ordentlichen Boardbesucher noch ordentlicher wurden, und die Boardfrieden- Torpedos jemanden hatten, mit dem man sich nach Herzenslust herumzanken konnte. Das war problematisch.
Annelie hat das gemerkt, hat einen anderen Stil entwickelt. Sie hat die schwierigen Charaktere persönlich via PN angesprochen, hat Dinge geklärt, Druck herausgenommen. Annelie hat mit dem Riesengedächtnis eines Elefanten im Stillen Persönlichkeitsprofile entwickelt, die ihr geholfen haben, mit Einzelnen zu reden, Konfliktlösungen herbeizuführen. Sie hat dieses Wissen auch im Internen Forum bei Diskussionen um einzelne Probleme in die Waagschale geworfen. Annelie hat also das Personalisiertes Empathisches Usermanagement (PEU) erfunden. Internetweit einzigartig! Das waren sehr unruhige Zeiten damals. Webspace- Provider sind weggebrochen, die ganze Plattform ist ausgefallen, das Board war komplett weg, mehrmals, das Boardteam ist mehrfach komplett implodiert, inklusive der Techniker. Alptraum Boardteam- Implosion (BI). Ich habe vor nichts mehr Angst, als BI. Es gab Angriffe auf das Board von innen, von außen, den Spendenskandal, falsche Personalentscheidungen, fehlgeleitete Boardteam- Leiter, Selbstmord von Boardteam- Mitgliedern, Rücktritte in Frieden, in Unfrieden.
Diese Dinge haben Annelie übel mitgespielt, ich übrigens leider vereinzelt auch (was mir sehr leid tut in der Rückschau, Annelie).
Am Ende einer Ära nach der letzten BI war Annelie in der neuen Ära immer da, motiviert, voll operational und frustrationstolerant. Annelie kannte befähigte Boardies, die helfen konnten, alles wieder aufzubauen und hochzufahren. Annelie ist damit die Erfinderin des Effizienzorientiertes Community Networking (ECN). Neue Boardteam- Mitglieder sind ein echtes Problem. Sie kommen aus der Community, wissen wie es dort zugeht, haben ihre eigene Vorstellung davon, wie man alles verbessern könnte, wissen aber im Allgemeinen überhaupt nicht, welche Schwierigkeiten konkret vom Team gelöst werden müssen, und wie man das elegant macht. Besonders schlimm ist, wenn das Boardteam komplett neu ist. Keiner weiß dann, wie die Dinge zusammenhängen. Cosmo erklärt dann, wie es geht, aber neuen Boardteam- Mitgliedern haftet stets die Eigenschaft an, grundsätzlich daran zu zweifeln, dass Cosmo recht haben könnte.
Annelie hat sich stets liebevoll um die neuen Teammember bemüht, sie in das Geheimnis eingeführt. Annelie ist die Erfinderin des Personalisiertes Empathisches Teammanagement (PET). Wenn sich Menschen aus dem Internet gemeldet haben, und sich persönlich um sie bemüht und mit ihr kommuniziert haben, hat sie das immer besonders gefreut. Sie hat uns im Internen Forum darüber berichtet.
Während der ganzen 15 Jahre, die das Board schon läuft, wusste ich immer, Annelie ist da, sieht nach dem Rechten, macht alles gut. Moderiert, sieht sich fast jeden Thread an, und greift ein, falls es erforderlich ist, kümmert sich um die Datenbank, löst Userprobleme. Eine Arbeit, die zwar nötig ist, aber auch sehr monoton sein kann. Es ist sehr schwierig, jahrzehntelang ins Web hineinzuarbeiten, ohne einen traditionellen materiellen oder sozialen Benefit zurückzuerhalten. Annelie ist damit die Erfinderin des Altruistisches Webworking (AW). Eine grandiose Arbeitsleistung, gepaart mit einer phänomenalen sozialen Boarderfahrung. Ich habe den Eindruck, dass Annelie die große soziale Erfahrung schon hatte, bevor sie auf das Board kam.
PEU, ECN, PET, AW, BM: All das hat Annelie erfunden. Vor ihr hat keiner gewusst, was das ist, wie das geht, wozu man das braucht. Keine kann es so gut wie Annelie. Annelie ist eine lupenreine Internet- Pionierin.
Wie ist das alles möglich? Ich glaube, das hat etwas mit Güte und Liebe zu tun. Annelie ist eine liebevolle Frau. Annelie ist zwar nicht die Erfinderin der Mutterschaft schechthin, aber sie hat die Mütterlichkeit in ein virtuelles soziales Netzwerk übertragen. Sie ist die Erfinderin der Board- Maternität (BM). Ein Board ist kein Informatik-Projekt, sondern läuft am besten als Matriarchat. So sehe ich das. Annelie hat das gewusst und realisiert.
Annelie, du bist eine tolle Frau. Es schmerzt mich sehr, dass du bald gehen musst. Es ist schade, dass wir uns nie persönlich kennen gelernt haben. Deine Privazität war dir immer wichtig, vielleicht hast du auch mit dem Board-Cosmo schon Cosmo genug gehabt. Ich habe dich total lieb. Ich bin da nicht der Einzige. Sicher nicht nur im Internet nicht, sondern bestimmt auch in deinem privaten Umfeld.
Ich verspreche dir, dass wir weitermachen mit deinem Projekt, so wie du es vorgemacht hast. Damit deine Seele für immer da ist. Danke für alles, liebe Annelie.
Irgendwann treffen wir uns, irgendwie. Mein einziger Trost.